Joachim Löw übt in seiner WM-Analyse so viel Selbstkritik wie noch nie. Er erwähnt Fehler und äußert Enttäuschung über Özil. Doch auf tief greifende Veränderungen möchte er verzichten.
Die lang erwartete Rede fängt mit kleiner Verzögerung und einem ernsten Blick an. Es ist 12:03, Joachim Löw setzt sich auf das Podium der Pressekonferenz im Münchner Stadion. Gute zwei Monate nach dem katastrophalen Vorrunden-Aus bei der Weltmeisterschaft in Russland gibt der Bundestrainer zusammen mit DFB-Direktor Oliver Bierhoff die Analyse des Turniers frei – und die Aufstellung seiner Mannschaft für die kommende Zeit.
Mit rund zwei Stunden war es die wohl längste Pressekonferenz in der Geschichte des DFB. Zunächst legten Bierhoff und Löw ihre Sicht auf die Dinge dar. Beide blickten immer wieder auf ihre Notizen, um ihre Schwerpunkte zu unterstreichen, ließen sie Folien auf Leinwänden mitlaufen. “Die WM”, meint Löw, “war für mich ein absoluter Tiefschlag. Daran können wir nichts beschönigen. Wir haben unsere Möglichkeiten bei Weitem nicht genutzt und das frühe Ausscheiden ist die Quittung dafür.”
Man hat vor allem mit Spannung erwartet, wie genau Löw auftreten wird. Welche Antworten er in Bezug auf die vielen Fragen rund um den großen Misserfolg im deutschen Fußball parat hat. Bringt er vielleicht eine bestimmte Botschaft mit? Es ist klar zu spüren, dass Löw nicht unvorbereitet erschienen ist. Wahrscheinlich hat er sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt. Wie von den meisten erwartet hat er den großen Umbruch im Team nicht verkündet. Es lässt sich im äußersten Fall als ein “Umbruch light” betiteln.
Verkleinerter Betreuerstab
Bierhoff und er üben so viel Selbstkritik wie noch niemals zuvor. Die Meisterschaft hat Löws Blick verändert, sie hat ihn geschärft. Er nimmt Stellung: “Mein größter Fehler war, dass ich gedacht hatte, wir würden mit unserem dominanten Stil leicht durch die Vorrunde kommen. Wenn wir so spielen, dann müssen alle Umstände stimmen, damit dieses Risiko auch toleriert werden kann. Gerade diese Umstände haben in den ersten Spielen bei uns aber nicht gepasst.” Und ergänzt: “Das kann fast schon als arrogant bezeichnet werden. Ich wollte es auf die Spitze treiben und noch weiter perfektionieren. Die Mannschaft hätte eine Vorbereitung durchlaufen müssen, wie es 2014 der Fall war, als Defensive und Offensive ausgewogen war.”
Löw macht mithilfe einer Präsentationsfolie deutlich, dass seine Mannschaft in Russland rund 22 Prozent weniger nach vorn gespielt hat, verglichen mit der Qualifikation. Daher verkündet er personelle Veränderungen: Der bisherige Co-Trainer Thomas Schneider wird zum Leiter des Scouting. Der aktuelle Chefscout Urs Siegenthaler, den man vor allem wegen der 0:1-Niederlage beim Auftakt gegen Mexiko infrage stellte, wird nur noch in “übergeordneter Rolle” für den Fußball-Bund arbeiten. Um einen neuen Sportdirektor zu finden, werde man sich Zeit nehmen, sagte Bierhoff. Denn Horst Hrubesch wird zum Jahresende aufhören.
Generell hat man in der sportlichen Führung beschlossen, das “Team hinter der Mannschaft” zu verkleinern. Verglichen mit der Weltmeisterschaft in Russland werden zukünftig elf Personen weniger im Betreuerstab sein, unter anderem wird man weniger mit Physiotherapeuten kooperieren. Erklärt wird das damit, dass ein eingeweihter Kreis nicht so groß sein sollte.
Verzicht auf Mario Götze
Löw und er standen zuletzt in der Kritik, weil sie sich erst so spät nach der WM äußern. In der letzten Woche hatten sie den Vertretern der Bundesliga sowie dem Verbandspräsidium ihre Ergebnisse vorgestellt. In der ersten Zeit nach dem WM-Aus habe Löw eine große Wut in sich gespürt, meint er. Hinterher wollte er alle Informationen sammeln. Er habe viele WhatsApp-Nachrichten von den Spielern bekommen und darin vielfältige Selbstkritik gelesen. Tenor: Meine Leistung konnte ich nicht zu 100 Prozent abrufen. Ich hätte mehr zum Spiel beitragen können. Jetzt will ich es besser machen! Auch er verspüre eine große Motivation, Kraft, Energie und Begeisterung, “dass wir wieder auf Kurs kommen”.
Dazu bekommt aber nicht jeder die Chance von Löw. Für die anstehenden Länderspiele, zum einen gegen Weltmeister Frankreich im Rahmen der neuen Nations League, zum anderen gegen Peru in Sinsheim, werden vier WM-Spieler nicht berücksichtigt: 2014er-Weltmeister Sami Khedira, Kevin Trapp, Sebastian Rudy und Marvin Plattenhardt. Mario Gomez und Mesut Özil waren selbstständig nach der Weltmeisterschaft zurückgetreten. Mit Thilo Kehrer von PSG, Nico Schulz von Hoffenheim und Kai Havertz aus Leverkusen beruft Löw drei Neue. Weiterhin möchte er mit Jonathan Tah, Nils Petersen und Leroy Sané auf drei Spieler setzen, die schon vor der Meisterschaft in Russland im vorläufigen Kader gestanden hatten, im Endeffekt aber gestrichen wurden. Auch Serge Gnabry soll bald für Deutschland spielen.
Auf Mario Götze dagegen wird Löw auch künftig verzichten. Jedoch sei der Offensivstar vom BVB nicht abgeschrieben, meinte der Bundestrainer: “Er ist in einem guten Alter und man weiß um seine Qualitäten. Ich sehe die Dinge so: Erst soll er sich in Dortmund wieder richtig präsentieren. Sobald er das schafft, werden wir ihn bestimmt wieder berücksichtigen.”
Bierhoff kritisiert die Spieler
Özil soll er zwei Wochen lang versucht haben, zu erreichen, per Nachricht und Anruf auf sein Smartphone – vergeblich. Über seinen Rücktritt wurde der Trainer nicht persönlich von Özil informiert, sondern von dessen Berater am Telefon. Man merkt Löw klar an, dass er dieses Verhalten nicht sehr hoch schätzt. In vergangenen Jahren sei es stets so gewesen, dass ein Spieler persönlich mit ihm über seinen Rücktritt gesprochen hat. “Das werde ich jetzt erst mal akzeptieren. Die Situation mit den Fotos haben wir absolut unterschätzt”, meinte Löw über die Erdogan-Affäre. “Wir dachten, das Thema sei mit einem Treffen mit dem Bundespräsidenten aus der Welt zu schaffen. Mein wichtigster Gedanke zu dem Zeitpunkt war, uns vernünftig auf die Meisterschaft vorzubereiten.”
In Ilkay Gündogan, der ebenfalls auf den Fotos mit Erdogan erscheint, sieht Löw einen Schlüsselspieler. “In den nächsten Jahren wird er ziemlich wichtig sein”, teilte Löw mit. Er appelliere auch an die Fans, Gündogan bitte nicht mehr auszupfeifen. Gündogan habe sich klar zu den deutschen Werten bekannt und zudem stark unter der Situation, die durch den Erdogan-Eklat verursacht worden war, gelitten. “Dieses Thema hat uns viel Kraft gekostet, es war nervenaufreibend, weil es ständig wiederkam”, sagt Löw. Doch darin liege nicht der einzige Grund für das frühe WM-Aus.
Bierhoff betitelt das Fehlen einer richtigen Einstellung als Hauptgrund für die Pleite in Russland – und übt scharfe Kritik an der Mannschaft. “Wir waren selbstgefällig und haben die Hilfe der Fans als selbstverständlich hingenommen”, teilte der Europameister von 1996 mit. Man habe es für einen Selbstläufer gehalten. Von Löw und ihm wurde bestätigt, dass das WLAN im Quartier teilweise abgeschaltet werden musste, weil einige Spieler zu viel an der Playstation saßen. Zudem hat die “Sportbild” berichtet, Antonio Rüdiger hätte seine Shisha zum Turnier mitgebracht und Timo Werner ein Frühstück verschlafen.
Deshalb hat Bierhoff an den DFB-Verhaltenskodex erinnert, der vor geraumer Zeit aufgestellt worden war. Und kündigte an: “Ich werde in Zukunft mehr einfordern, und wir werden mehr erwarten.” Er möchte näher an den Spielern sein, beispielsweise per WhatsApp die Kommunikation intensivieren. Es werden sportpsychologische Maßnahmen und Vorträge geben. Außerdem will Bierhoff einen Beirat für die Direktion gründen, in dem “Liebhaber des Fußballs” und Experten sitzen. Denn der Blick von außen sei ihm wichtig, betont Bierhoff.
Entscheidende Fragen sind abzuwarten
Zudem bestätigt er, dass es während der Meisterschaft ein Telefonat mit Uli Hoeneß gegeben haben soll. Dari soll der Bayern-Präsident geraten haben, Özil auf der Bank zu lassen. “Er hat mir Hinweise gegeben, dass er die Dinge an einigen Stellen anderse machen würde. So nahm ich es zur Kenntnis. Allerdings ist Uli Hoeneß Aufsichtsrat beim FC Bayern, nicht etwa Bundestrainer.” Löw und Bierhoff möchten auch mehr Nähe zu den Zuschauern schaffen, sodass öffentliche Trainings im Herbst angekündigt wurden.
Am Montag werden sich die Nationalspieler zum ersten Mal nach der WM in München treffen, um für Frankreich zu trainieren. “Bei uns spielt eine gute Mischung aus Jung und Alt. Es geht jetzt darum, ein richtiges Spielgefühl zu entwickeln und es auch umzusetzen”, meint Löw.
Einige Antworten sind auf die vielen gestellten Fragen auf der Pressekonferenz in München erfolgt. Man wird Löw in den nächsten Monaten am Auftreten der Mannschaft messen. Dann werden auch erst die entscheidenden Antworten kommen, auf Fragen wie: Kann Löw den Umbruch? Wird er das Feuer entfachen? Der Bundestrainer befindet sich vor der wohl größten Herausforderung seiner Karriere.